erkennung

10.03.2018    Claudia Schattach    "Ansichten einer Kurzsichtigen"



Netzwerke
Trotz der Sauberkeitsermahnungen meiner Mutter bringe ich es nicht übers Herz, die innenarchitektonischen Meisterwerke meiner saisonalen Mitbewohnerinnen zu zerstören. Erst wenn der Winter vorbei ist und neue Spinnen ihre Chance haben wollen, schreite ich mit Bedauern und Besen zur Tat. Bis dahin haben diese Luftschlösser bereits Schmutz angesetzt und versuchen, durch lange, herabhängende Fäden Kontakt mit meinem Scheitel aufzunehmen.

Als ich noch Kind war, trieb ich mich des Öfteren auf dem Speicher meiner Großmutter herum, die einen Bauernhof besaß. Das ganze Dach schien dort nur noch aus Methusalem-Spinnweben zu bestehen, die durch den Staub eine solche Schwere erreicht hatten, dass sie herabhingen bis auf Nasenhöhe von uns Kindern. Man musste sich bücken, wollte man nicht an den Spinnweben hängen bleiben, die sich leise und sanft bewegten wie Gespenster. Es war wunderbar gruselig, zumal es vorkam, dass sich eine haarige Spinne an den Fäden herabließ, um einem ins Ohr zu kriechen.

Dagegen sind die Spinnweben in meiner Wohnung dezent, auch wenn mein Kohleofen  dafür gesorgt hat, dass die Spinnweben über ihm aussehen, als seien es die Achselhaare meiner Zimmerwände. Spinnweben sind aber nicht einfach nur (Kohle)Staubfänger, sondern biologisch abbaubare Kunstwerke, die meine Wohnung jedes Jahr anders aussehen lassen.

Vor allem jedoch sind die versponnenen Weben Gedankenfänger. So klein kann ein Gedanke gar nicht sein, dass er sich in diesen filigranen Netzwerken nicht verheddert und verwickelt. Und ich lege mich auf den Rücken und spinne, mit Blick auf die verwickelten Gedanken, meine eigenen Netze.

zurück zum alphabettínenblog