aus dem Roman
"Vor dem Morgen liegt die Nacht"
von Claudia Breitsprecher
Copyright Verlag Krug und Schadenberg, Berlin 2005
"Seit Wochen hatte sie diesem Augenblick entgegengesehen, hin- und hergerissen zwischen Neugier und Beklemmung. Als der Turm des Gotteshauses sie nun schweigend grüßte, spürte sie ein wehmütiges Brennen in der Brust. Alles war so ruhig. Eine alte Frau pflanzte lila-weiße Stiefmütterchen in die mit frischer Erde aufgefüllten Beete des Kirchhofs, ein Schaukasten kündigte die Termine religiöser Veranstaltungen an. Gottesdienste, Bibelstunden, Gesprächskreise. Das Gebäude hatte seine Geschichte hinter sich gelassen, lediglich eine Gedenktafel erinnerte an die Geschehnisse der Wendezeit.
Sie aber erzählte nur von jenen Begebenheiten, die alle kannten, deren Bilder in die Welt hinausgegangen waren. Zeugnisse stummen Aufbegehrens und friedlichen Protests. Auch Michelle kannte diese Bilder, doch sie hatte dazu noch ganz andere, eigene, die nur ihr gehörten und die ihr noch immer nahe gingen, wenn sie jetzt auf die unerschütterliche Backsteinfassade sah. Die Kirche, die für so viele zum Symbol der Veränderung geworden war in den Jahren der Wende, war auch für sie ein Ort des Wandels gewesen, Zentrum ihrer persönlichen Metamorphose und Revolution."
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