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aus dem Roman "Torstraße 1"

Copyright dtv, 2012

Elsa geht einen Schritt auf das Tor zu, den Eingang zur Torstraße 1. Hoch ragt das helle Gebäude in den Berliner Himmel, mit einer Reling um das Obergeschoss und geschwungenen Seitenflü-geln. Wie immer, wenn sie sich in den achtzig Jahren ihres Lebens dem Haus genähert hat, gerät Elsas Herz aus dem Takt. Mal ist es Neugier gewesen, mal Trauer, Zorn oder Sehnsucht. Jetzt sind es Freude und Furcht. Freude auf diesen Abend, einen warmen, windigen Abend im Juni, an dem die Torstraße 1 nach Jahrzehnten der Besatzung und vielen Jahren Leerstand zu neuem Leben erwacht. Und Furcht, dass man sie heute nicht hineinlässt.
Zur Eröffnung drängen sich die Menschen auf dem Platz vor dem Haus. Während Elsa sich Schritt für Schritt auf den Eingang zubewegt, hält sie Ausschau nach einem grauen Haarschopf in der Menge, einem ganz bestimmten, sehr eigenen Kopf. Ob Bernhard irgendwo unter all den Fremden ist? Ob er überhaupt kommen wird? Dann könnten sie hier und heute miteinander anstoßen - auf ihren und seinen Geburtstag und den Geburtstag dieses Hauses, das zur selben Stunde,

als sie beide überstürzt zur Welt kamen, als Kaufhaus eröffnet wurde. Darauf, dass sie alle drei diese irrsinnigen acht Jahrzehnte überlebt haben. Ein Wunder, denkt Elsa, dass niemand von uns in Trümmer gegangen ist. Sie fühlt nach dem Zettel in der Tasche, den sie für alle Fälle eingesteckt hat. Als Eintrittskarte sozusagen. Auf dem vergilbten Papier steht blau gedruckt: "Passierschein: Genose/Genossin ... ist berechtigt, ... Paket aus unserem Hause zu nehmen. Datum ... Unterschrift ... Stempel". Da hat sie sich selbst als Genossin Elsa Jonass eingetragen, mit dem Datum von heute und dem Stempel ihres vor Jahren geschlossenen Fotostudios. Den Passierschein hat sie Bernhard abgeluchst, als dieses Haus noch sein Arbeitsplatz war, während man zwischen sie und das Haus ihrer Kindheit eine Mauer gebaut hatte. Und als die Mauer weg war, hat Bernhard um das Haus lange einen großen Bogen gemacht. Aber jetzt ist es wieder offen, offen für sie beide, und diese Party hier, auch wenn es die Gastgeber nicht wissen, ist die Geburtstagsparty für ihn und sie und ihr Haus.
"Nicht einschlafen", sagt hinter ihr eine Stimme. Elsa macht

einen großen Schritt, verliert fast das Gleichgewicht. Die neuen Schuhe haben Absätze, wie sie seit Jahrzehnten keine getragen hat. Für die letzte Party des Lebens kann man noch einmal Schlange stehen, auch wenn die Füße schmerzen.
Neben ihr steht eine junge Frau. Sie trägt Hosen und darüber eine Art Kleid. "Haben Sie vielleicht noch eine Einladung übrig?", fragt Elsa. "Für die Einweihungsfeier?" Einen Moment schaut die Frau sie fragend an. Ein Auge ist halb verdeckt, der Pony verläuft schräg über die Stirn. "Ach, Sie meinen die Club Opening Night?", sagt sie, und Elsa nickt. "Nein, ich hab leider nur eine Karte."
Richtig, das Kaufhaus ist jetzt ein Club. Aber man muss es "Klabb" aussprechen wie die junge Frau. Auch das Haus hat, wie Elsa selbst, oft den Namen gewechselt. Kaufhaus Jonass, Reichsjugendführung, Haus der Einheit, jetzt eben Soho House Berlin. Die Namen kamen und gingen mit den wechselnden Besitzern und Machthabern. Selbst die Straße, in der dieses Haus stand, hieß immer wieder anders. Torstraße, Lothrin-ger Straße, Wilhelm-Pieck-Straße und nun wieder Torstraße. [...]

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