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aus dem Roman "Wintergäste"

Copyright dtv, 2015

Dann muss ich wohl tot sein, denkt sie. Soeben hat Inge die Augen aufgeschlagen und Schwarz gesehen. Gegenüber ihrem Bett, dort, wo ihr gewöhnlich ihr Gesicht im Wandspiegel begegnet - ein weißer Haarschopf, hellblaue Augen -, erblickt sie nichts als unergründliches Schwarz. Dieses Tuch sagt mehr als tausend Engelszungen. Höllenfeuer. Oder Schmeißfliegen. In den Zimmern der Toten werden seit jeher die Spiegel verhängt, um nicht vom Sog des Jenseits erfasst zu werden und ihnen schlafwandlerisch durch die geöffnete Pforte zu folgen. Wer als Erster hineinblickt, bevor der Verstorbene unter die Erde gebracht ist - versenkt und versiegelt auf Nimmerwiedersehen -, den wird der Tod als Nächsten holen.
Viele Male hat der Spiegel schon Trauer getragen. Die Schwester hat aufgebahrt in der guten Stube gelegen, später Mutter und Vater einträchtig nebeneinander wie selten im Leben, im dämmrigen Schein der Kerzen, im Dunstkreis verwelkender Blumen und ihres Totengeruchs. Die Vorhänge waren fest zugezogen, kein Lichtstrahl störte ihre Ruhe. Nun ist die Welt vor ihr verschlossen, der Spiegel verhüllt worden. Nur ein schmaler Streifen Licht fällt durch den Spalt zwischen den Gardinen. Doch keine Kerze brennt und keine welkende Blume verströmt Trauergeruch. Wahrscheinlich hat noch niemand die Zeit gefunden, sich um Kerzen und Blumen zu kümmern. Sie ist ja noch nicht einmal kalt. Oder? Inge versucht die Hand zu heben, ihren Arm zu befühlen, ein Stück Haut. Die Hand ist zu schwer, der Arm bleiern.

Zu gerne würde sie jetzt einen Blick in den Spiegel werfen, den großen Wandspiegel mit dem wurmstichigen Holzrahmen und den blinden Flecken, der hier hing und die Dinge spiegelte, seit sie in Haus Tide lebte, dem Haus ihrer Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, Ururgroßeltern ... Seit ihrem ersten Tag auf der Welt. Was hat sie schließlich zu verlieren? Gegen die Todesstrafe ist sie nun immun. Doch sie kann weder Tuch noch Geheimnis lüften, nicht einmal den kleinen Finger bewegen.
Es muss Tag sein. Mittag. Ein wintermilchblauer Himmel liegt jenseits des Vorhangs, der kurze Tag geht seinem Höhepunkt entgegen, eine hellgelbe Wintersonne, entschlossen, ihr Letztes zu geben, lässt die durchscheinenden Blätter an den Zweigen leuchten. So war es jedenfalls zuletzt, als sie noch lebte. Als sie mit ihren löchrigen Gartenhandschuhen Tannenreisig in die Zweige des Rosenstocks gehängt hat, um ihn gegen Wind und Frost zu schützen. Sie solle sich die Mühe sparen, haben alle gesagt, von Eis und Schnee keine Spur. Selbst viele Gänse aus dem hohen Norden, die sonst nur Rast machten im Wattenmeer auf ihrem Zug nach Süden, sind in diesem Jahr hiergeblieben. Wie so oft an der Küste und auf den Inseln sind die Weihnachtstage lauwarm gewesen, feucht und nieselig. Aber sie spürte etwas in den Knochen, kommenden Frost und noch etwas anderes, Unbekanntes, gegen das kein Kraut und kein Tannenreisig gewachsen war. Und heute Vormittag hat sie eine Schar Gänse hoch am Himmel gesehen, die sich in einem langen Zug auf den Weg machten, verspätete Winterflüchter nach Süden. Also hat sie Mulch angehäufelt, Reisig gehängt, sich danach für ein kurzes Nickerchen hingelegt, wie sie glaubte. Tja, so schnell kann es gehen. [...]

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